Vorwort. Der Schrift, welche wir hiermit dem Publikum übergeben, liegen die Untersuchungen zu Grunde, welche bei Abfassung der von uns im Jahre, 1847 herausgegebenen Evangelien-Harmonie gemacht werden mußten, und die wir auch jezt noch im Wesentlichen für richtig halten. Durch fort= gesezte Studien über den Charakter und die Anlage der einzelnen heil. Evangelien, so wie durch Benußung dessen, was von Andern zur Aufhellung der schwierigeren Theile dieser Quellen geleistet wurde, ist die Arbeit zu der Vollständigkeit gediehen, daß sie hoffentlich mit Nußen gelesen werden kann. Die Untersuchungen über das Leben Jesu, nämlich über die Zeit seiner Geburt und seines Erlösungstodes, über die Dauer und den Schauplaß seiner Wirksamkeit, über die Geschlechtstafeln, die Verwandten und Jünger des Herrn, find von uns als erster Theil des Lebens Jesu und getrennt von der eigentlichen Lebensgeschichte des Herrn behandelt worden. Wir hoffen hierdurch mehr Uebersichtlichkeit und Klarheit in die Geschichte selbst gebracht zu haben, als dies ohne solche Anordnung möglich gewesen wäre. Außerdem hielten wir es für zweck- und zeitgemäß, in einer Einleitung dasjenige vorauszuschicken, was wir sowohl zur richtigen Auffassung der Bedeutung und des Zweckes des Lebens Jesu, als auch zur Würdigung der Quellen, woraus dasselbe aufzubauen ist, für nothwendig erachteten. Ist schon hierdurch der Standpunkt, welchen wir auf diesem Gebiete ein nehmen, erkennbar, so haben wir uns um der Wichtigkeit dieses Gegen= standes willen, über denselben auch noch ausdrücklich daselbst ausgesprochen. Daß eine geschichtliche Darstellung des Lebens Jesu ganz besonderen Schwierigkeiten unterliege, dies haben die seit einigen Dezennien in reicher Anzahl erschienenen Bearbeitungen desselben unsers Erachtens hinlänglich bewiesen. Liegen diese Schwierigkeiten auch theilweise in der eigenthümlichen Beschaffenheit der zu benüßenden Quellen; so find sie doch noch ungleich mehr in der theologischen Bildung und in dem religiösen Standpunkte derer begründet, welche diese Arbeit unternahmen. Wer die Erlösungsbedürftigkeit des Menschengeschlechts nicht erkannt und hiervon ausgehend die Bedeutung der Erscheinung des Messias in der Welt nicht begriffen hat, dem werden die heiligen Urkunden des Neuen wie des Alten Bundes stets ein verschlossenes Buch bleiben, welche Hilfsmittel zur Erforschung ihm historische Bildung, Kenntniß des Alterthums und philologische Gelehrsamkeit überhaupt auch immer gewähren mögen. Im Leben des Messias ist alles Einzelne, seine Ankunft auf Erden, seine Lehre und Wunder, sein Tod am Kreuze, seine Auferstehung und Himmelfahrt, mit jener Erkenntniß so innig verbunden, daß jenes nur hieraus richtig begriffen und beurtheilt werden kann. Diese Wahrheit ist dem Verfasser bei Lesung der vielen Schriften, in welchen das Leben Jesu bearbeitet erschienen ist, stets und in dem Maße einleuchtender geworden, als er überall, wo mißglückte und Aergerniß gebende Versuche vorlagen, gerade darin den Grund hiervon erkannte, daß es den sonst oft mit Talent und Gelehrsamkeit wohl versehenen Verfassern an dem Besiße und der Erkenntniß der vollen christlichen Erlösungs-Wahrheit gebrach. Darum hat der rationalistische Skeptizismus in allen seine Formen und Schattirungen es zu keiner richtigen Darstellung des Lebens Jesu gebracht und sich einer solchen nur in dem Grade zu nähern vermocht, als er mit Aufgebung seines Standpunktes sich dem wahren christlichen Standpunkte selbst näherte und so die Klippen vermied, an denen die Unpartheilichkeit der Darstellung gewöhnlich Schiffbruch leidet. Zwar ist eine Reihe von Untersuchungen über das Leben Jesu von dem religiösen Standpunkte des Geschichtschreibers unabhängig; aber abgesehen davon, daß durch dieselben die Geschichte des Lebens Jesu erst vorbereitet wird; so zeigt doch die Erfahrung, daß auch hier z. B. über die Abstammung Jesu, über die Mutter des Herrn und seine Verwandten u. a. der nicht christliche Standpunkt meist nur halbwahre oder ganz irrige Resultate erzielt. Außer dem Zwecke einer wissenschaftlichen Darstellung des Lebens Jesu verfolgt unsere Schrift auch noch einen andern: nämlich dazu beizutragen, daß das moderne Heidenthum, jene furchtbare, gewöhnlich als Folge unvergebener schwerer Sünden qualificirte Gottesvergessenheit, woran gegenwärtig ein großer Theil des Menschengeschlechts, die den Namen Christen tragen, jämmerlich dahinsiecht, durch Einsicht in die Führungen Gottes und in die Bedeutung des Erlösungswerkes, möglichst bald überwunden werde. Die protestantischen Bearbeitungen des Lebens Jesu in der neuern Zeit mit äußerst wenigen Ausnahmen haben in dieser Hinsicht das vorhandene Uebel bald gefliffentlich, bald absichtslos mehr genährt und unterhalten, als zu beseitigen gesucht, indem sie, statt vorhandene geschichtliche und andere Schwierigkeiten in dem Leben Jesu gewissenhaft zu lösen, oder wenn sie dies nicht vermochten, ihren Kräften mehr entsprechende Arbeiten zu suchen, sich darin gefielen, Schwierigkeiten aller Art zu häufen, vermeintliche Widersprüche zu entdecken und meistens den fraglichen Gegenstand in Dunkelheit und Verwirrung übrig zu lassen. Hierdurch war es Vielen nahe gelegt, dieses Chaos von Meinungen der Theologen als Entschuldigungsgrund für ihre Unwissenheit in den Lehren des Christenthums und für ihre Gottesvergessenheit zu benüßen. Aber nicht blos die Bearbeitungen des Lebens Jesu tragen diese Schuld; sondern eine Mitschuld trifft auch den Theil der protestantischen Commentare zu den heil. Evangelien und den Propheten, in welchen über schwierige Gegenstände leicht abgeurtheilt und nach Gutdünken, ohne Einsicht in den tiefern Zusammenhang, die Schrift gedeutet wird. Das Wehe, welches der Heiland über die Jüdischen Schriftgelehrten ausrief, welche den Schlüffel der Erkenntniß wegnehmend Andere am Eingang in die Wahrheit hinderten, trifft mit vollem Fuge auch eine große Klasse unserer modernen Schriftgelehrten, wozu sich leider gar Viele berufen dünken, die schon zu ihrem eigenen Besten nichts Ersprießlicheres thun könnten, als ihre Kräfte auf anderen Gebieten zu versuchen. Aus dem Obigen können unsere Leser es sich erklären, wenn sie in unserer Schrift die neueren Bearbeitungen des Lebens Jesu theils über |